Suicide - Selbstmord

 

Unaufhörlich liefen mir die Tränen das Gesicht herunter und hinterließen nasse Flecken auf meiner Kleidung.

Warum?

Diese Frage schwirrte schon die ganze Zeit in meinen Gedanken umher. Doch keiner konnte sie mir beantworten. Wieso musste das ausgerechnet mir passieren? Ich konnte einfach nicht mehr, sah keinen Sinn in all dem. Keinen Sinn in meinem Leben, meiner Existenz. War ich bloß hier, damit man mir alles nehmen konnte? Alles, was meinem Leben einen Sinn verlieh? Auch darauf kannte ich keine Antwort, kannte niemand eine Antwort.

Mit tränenverschleiertem Blick sah ich auf den Gegenstand in meiner Hand nieder. Die kleine harmlos wirkende Klinge, die ich aus dem Rasierer meines Vaters entfernt hatte. Ja, sie wirkte harmlos, doch konnte sie mich mit einem einfachen Schnitt von diesem sinnlosen Leben befreien. Bloß ein kleiner Schnitt.

Mit zitternden Fingern setzte ich sie an mein Handgelenk. Mein Griff wurde fester. Was mich wohl auf der anderen Seite erwartete? Ich wusste es nicht. Und genau das ließ mich zögern. Würde ich dann wieder bei ihnen sein? Würde ich sie wiedersehen? Ich hoffte es. Ich wünschte es mir so sehr. Wieder trieb mir der Gedanke an sie die Tränen in die Augen. Meine Eltern. Mein kleiner Bruder. Wie konnte so etwas nur geschehen?

Ich erinnerte mich noch ganz deutlich an den Unfall. Warum war ich verschont geblieben? Meine Mutter und mein Vater waren auf der Stelle tot gewesen. Mich und meinen Bruder hatte man sofort ins Krankenhaus gebracht. Doch für ihn war es bereits zu spät. Und was war mit mir? Ich war mit einer leichten Gehirnerschütterung und einigen blauen Flecken davongekommen. Glück. So hatten es die Ärzte genannt. Ich hatte andere Begriffe dafür. Hölle, Schmerzen.

Ich schluckte einmal. Ja. Es war meine persönliche Hölle. Man hatte mich in ein Heim gesteckt, kaum dass ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich war weggelaufen und nun saß ich hier. In unserem alten Haus, auf dem Boden im Badezimmer.

Als ich das Haus betreten hatte, dachte ich meinen Bruder lachen zu hören. Sooft hatte er gelacht. Er war doch noch so jung gewesen. Gerade mal sieben Jahre! Das war nicht fair. Noch vor einer Woche war alles gut gewesen. Wir waren eine glückliche Familie.

Ich hob meinen Arm und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Ein klopfen. Jemand war an der Tür. „Sarah? Bist du da?“ Die Stimme klang vertraut, doch ich wollte sie nicht erkennen. Ich hatte keine Zeit mehr, musste mich beeilen. Es würde nicht lange dauern, bis die Person den Ersatzschlüssel unter dem Blumentopf entdeckte.

Erneut setzte ich sie an mein Handgelenk. Ein letztes Mal sah ich in Gedanken ihre Gesichter. Fest biss ich die Zähne aufeinander und fuhr mit der Klinge über die Haut, wo sich leicht bläulich die Adern abzeichneten.

Es schmerzte, doch nicht so sehr wie meine Seele. Das warme Blut lief über meinen Arm und ich schloss die Augen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Nach einer kleinen Ewigkeit verlor ich allmählich das Bewusstsein.

 

Ich öffnete langsam meine Augen. Ein helles Licht blendete mich und ich schloss sie sofort wieder. Was war geschehen? Nach und nach kam die Erinnerung zurück. War ich tot? War dies der Himmel? Blinzelnd machte ich die Augen wieder auf.

„Sie wacht auf!“, ertönte eine mir bekannte Stimme.

Es brach ein Gemurmel aus. Allmählich gewöhnten meine Augen sich an die Helligkeit und ich erkannte die Gesichter um mich herum. Enttäuscht stellte ich fest, dass es nicht meine Familie war, die mich dort anstarrte. Nein, es waren meine Freunde und meine Klassenkameraden. Katrin, meine beste Freundin, trat an mein Bett und sah die Anderen mit einem bedeutenden Blick an. Sie verstanden und verließen den Raum, während sie mir half mich aufzusetzen.

Kaum waren wir allein, sah sie mich vorwurfsvoll an. Ich senkte meine Augen und starrte auf den schneeweißen Verband, der mein Handgelenk verdeckte.

„Was hast du dir nur dabei gedacht? Meinst du, sie kommen wieder, indem du dir das Leben nimmst?“

Sie war wütend. Warum war sie so sauer? Konnte sie denn nicht verstehen, dass ich bei ihnen sein wollte?

„Ich …“ Meine Stimme versagte.

„Ja?“

„Du hast ja keine Ahnung!“, wütend sah ich in ihre braunen Augen. Sie sah leicht erschrocken aus. Mit dieser Reaktion hatte sie wohl nicht gerechnet.

„Weißt du eigentlich, wie es ist allein zu sein? Einsam in irgendeinem Heim zu verrotten? Nein, das weißt du nicht! Du hast deine Eltern noch!“

Ihr Blick verdüsterte sich.

„Allein? Einsam?“, sie drehte sich zu der Glasscheibe um, die diesen Raum von dem großen Krankenhausflur trennte. „Sieh nach draußen!“

Dort standen sie. Meine Freunde.

„Mensch, Sarah. Du bist doch nicht allein. Sieh sie dir an. Sie alle haben sich wahnsinnige Sorgen um dich gemacht. Sie hatten richtig Angst um dich. Als wir erfahren haben, dass du abgehauen bist und einen Brief dort gelassen hast. Einen Brief, in dem du dich verabschiedest! Da haben wir alle nach dir gesucht. Ich weiß, dass du gerade eine schwere Zeit durchmachst, aber gerade deswegen solltest du doch am besten wissen, wie schlimm ein solcher Verlust ist. Wolltest du mir und den anderen da draußen wirklich den gleichen Schmerz bereiten?“

Ihr traten Tränen in die Augen. Ich wollte nicht, dass sie wegen mir weinte. 

„Ich wollte sie doch bloß wiedersehen. Ich wollte …“

„Du weißt doch gar nicht, ob du sie wiedergesehen hättest. Keiner weiß, was nach dem Tod auf uns wartet. Diese ganzen Geschichten über das Paradies klingen zwar schön, aber es gibt keinerlei Beweise dafür. Du kannst uns … du kannst mich doch nicht einfach verlassen wegen einer Geschichte, die irgendjemand vor Tausenden von Jahren aufgeschrieben hat!“

Wartend sah sie mich an. Als ich nichts darauf erwiderte, drehte sie sich um und lief zur Tür. Kurz davor hielt sie inne und drehte sich noch einmal zu mir um.

„Denk darüber nach.“

Ehe ich antworten konnte war sie bereits weg.

 

In dieser Nacht schossen mir immer und immer wieder Katrins Worte durch den Kopf. Konnte sie denn nicht einfach verstehen warum ich das getan hatte? Es hatte für mich doch gar keinen Sinn mehr weiterzuleben. Ich war völlig alleine.

‚Sieh nach draußen!‘

Ich blickte erneut zu der Glasscheibe, hinter der jetzt nur noch der leere Flur zu sehen war. Es kam mir vor als würden sie mich immer noch anstarren. Meine Freunde. Diese Blicke. Sorge hatte sich in ihren Gesichtern gespiegelt.

Wütend schüttelte ich diesen Gedanken ab. War es denn so falsch bei meiner Familie sein zu wollen? Warum verstanden sie es denn nicht? Vor meinem geistigen Auge blitzen Katrins tränenverschleierte Augen auf.

‚… du kannst mich doch nicht einfach verlassen …‘

War es vielleicht doch falsch gewesen? Ich erinnerte mich an den ersten Schmerz nach dem Tod meiner Familie. Es war schrecklich gewesen. Auch jetzt tat es noch höllisch weh. Wie hatte sich Katrin wohl gefühlt, als sie von meinem Selbstmordversuch erfahren hatte? Wie war es für sie als es noch nicht feststand, dass ich überleben würde? Ein Schauer lief über meinen Rücken.

‚… deswegen solltest du doch am besten wissen, wie schlimm ein solcher Verlust ist.‘

Was hatte ich getan? Ich wollte mir gar nicht ausmalen wie sie gelitten hatte.

Ich atmete einmal tief durch und ordnete noch einmal meine Gedanken. Konnte ich den Schmerz aushalten? Katrin zuliebe? Hatte ich die Kraft das durchzustehen? Ich wusste es nicht genau. Ich schluckte. Ich würde es versuchen. Ja, ich würde es ihr zuliebe irgendwie hinbekommen.

 

Am nächsten Tag kam mich Katrin wieder besuchen. Mit einer ernsten Miene stand sie neben meinem Bett und starrte nachdenklich vor sich hin.

„Es tut mir leid.“

Ich brachte kaum mehr als ein Flüstern zustande.

„Wie bitte?“

Verwundert schaute sie mich an.

„Es tut mir leid, dass ich dir solche sorgen bereitet habe. Ich weiß jetzt, dass mein Verhalten falsch war. Es war so egoistisch von mir.“

Ein kleines Lächeln bildete sich jetzt auf ihrem Gesicht und sie musste ein paar Tränen wegblinzeln.

„Ich bin froh, dass du das eingesehen hast.“

Ich nickte leicht.

„Ich werde mich jetzt zusammenreißen und versuche damit klar zu kommen. Auch wenn ich es mir nicht wirklich vorstellen kann, dass es irgendwann besser wird.“

„Es wird bestimmt nicht einfach, aber zusammen schaffen wir das.“

Aufmunternd sah sie mich an und ihr lächeln wurde breiter.

Ich hatte das Gefühl gehabt mein Leben sei in eine Sackgasse geraten, doch jetzt hatte ich es verstanden. Es gab immer einen Sinn im Leben. Immer einen Grund weiterzuleben. Man musste nur die Augen offen halten und danach suchen. Mein wichtigster Grund stand gerade neben mir. Katrin und ich kannten uns schon unser ganzes Leben lang. Sie war wie eine Schwester für mich. Wie hatte ich das nur vergessen können?

Sie blinzelte die letzten paar Tränen weg und griff nach meiner Hand.

„Das nächste Mal, wenn du nicht weiter weißt, kommst du zuerst zu mir, verstanden?“

„Ich verspreche es.“ Mit Tränen in den Augen fiel ich ihr in die Arme.

Mama, Papa, Daniel. Ihr müsst noch eine Weile auf mich warten. Irgendwann, wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich zu euch stoßen. Doch noch war es nicht soweit. Ich hatte noch viele Jahre vor mir. Zusammen mit meinen Freunden.

 

Selbstmord ist keine Lösung. Es bereitet nur noch mehr Schmerzen.

Es gibt immer Menschen im Leben denen man etwas bedeutet. Manchmal sind es sogar diejenigen von denen man es am wenigsten erwartet.


 

 

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Kapitelfortschritt:

 

Halbblut

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Ayaka & das Drachental

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Projekt 120

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