Kapitel 4

 

 

Ich schlug meine Augen auf. Die Sonne blendete, tat mir auf der Netzhaut weh. Stöhnend schloss ich sie wieder. Ich fühlte mich ausgelaugt. Mein Hals brannte noch schlimmer als am Vortag. Versuchsweise hob ich wieder meine Augenlider. Mir entfuhr mit einem lauten Zischen die Luft aus den Lungen und ich schirmte mein Gesicht mit den Händen ab.

Warum schmerzte das denn so? Ich konnte mich nicht daran erinnern jemals so Lichtempfindlich gewesen zu sein.

Meine Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, rappelte ich mich auf. Es dauerte einen Moment bis ich mich erinnerte, warum ich auf dem nassen Waldboden lag. Die Taubheit von der letzten Nacht war vollends verschwunden und mich traf der Schmerz mit seiner vollen Härte. Ich sank wieder in mich zusammen und ließ den Tränen freien Lauf. So saß ich eine Weile da und weinte still vor mich hin.

"Wo steckt die Göre nur?"

Ruckartig hob ich meinen Kopf und war wieder voll und ganz da. Aus der Ferne drangen laute Rufe zu mir durch. Offensichtlich war ich gestern doch nicht so weit gerannt wie ich angenommen hatte.

Ich sprang auf und sah mich suchend um. Einige Meter rechts von mir sah ich ein großes Loch unter den mächtigen Wurzeln eines alten Baumes. Es war fast vollständig zugewuchert und ich hatte es nur meinen hervorragenden Augen zu verdanken, dass ich es überhaupt entdeckt hatte. Schnell lief ich hin und sah hinein. Es war gerade groß genug für mich. Ich sammelte noch etwas Laub und ein paar Zweige, kroch in den Hohlraum rein und bedeckte die Öffnung mit dem gesammelten Geäst. Durch eine Lücke zwischen dem Gestrüpp konnte ich noch einen kleinen Teil des Waldes sehen.

Zwei Männer tauchten in meinem Sichtfeld auf. Suchend sahen sie sich um. Ich verlagerte ein wenig mein Gewicht und einer der Zweige unter mir brach mit einem lauten Knacken entzwei. Einer von den Männern drehte sich ruckartig in meine Richtung und kam meinem Versteck gefährlich nahe. Vorsichtig drückte ich mich tiefer in die dunkle Öffnung.

"Was ist?"

Fragend sah der Andere seinen Begleiter an.

"Ich dachte, ich hätte etwas gehört." Schulterzuckend drehte er sich wieder um. "War wohl nur ein Tier."

Sie verschwanden wieder im dichten Wald. Ich blieb noch einen Moment in meinem Versteck, bevor ich vorsichtig wieder hervor kroch.

Das war knapp!

Ich musste schleunigst von hier verschwinden. Schnellen Schrittes lief ich in den Wald.

 

Ich hörte ein dumpfes Geräusch. Und tatsächlich! Als ich aus dem Unterholz trat fiel mein Blick auf ein kleines pelziges Tier. Seine großen, abstehenden Ohren zuckten. Mit den kleinen schwarzen Augen suchte es panisch die Umgebung ab, während es sich versuchte aus der Falle zu befreien. Ich lief hin, hob den provisorisch gebastelten Käfig hoch und packte meine Beute schnell am Nacken. Mit einer Handbewegung tötete ich es.

Auch jetzt noch, nachdem ich bereits ganze drei Monate für mich alleine sorgen musste, tat es mir noch immer etwas in der Seele weh. Ich erinnerte mich noch gut an Zeiten, wo ich die kleinen niedlichen Waldbewohner einfach nur beobachtet hatte und jetzt musste ich auf sie Jagd machen. Aber mir war auch bewusst, dass ich anders nicht überleben konnte. Seit dem Vorfall mit Elena konnte ich kaum noch eine Mahlzeit bei mir behalten. Ich wusste nicht, was mit mir los war, aber es jagte mir eine Heidenangst ein. Das Essen lag mir von Tag zu Tag immer schwerer im Magen und das schreckliche Brennen in meinem Hals war seither auch nicht verschwunden. Es wurde eher immer schlimmer! Irgendetwas an mir veränderte sich.

Ich band mir meine Beute an den Gürtel und ging wieder zurück zu der kleinen Hütte, die ich, nachdem die Menschen aus der Stadt aufgehört hatten mich zu jagen, im Wald entdeckt hatte. Sie war schon ziemlich heruntergekommen und lag einen guten Tagesmarsch von meiner früheren Heimat entfernt. Ich hatte mich zu Elenas Haus zurückgeschlichen und einige Sachen geholt. Außerdem hatte ich den Leichnam meiner Pflegemutter noch beerdigt. Die Anderen hatten Elena einfach liegen lassen. Wahrscheinlich fürchteten sie sich davor, das Opfer eines Dämonen zu berühren.

Erneut durchfuhr mich eine Welle des Schmerzes. Schnell schüttelte ich den Gedanken an meine Pflegemutter ab. Ich wollte nicht schon wieder in meinen Depressionen versinken. Zügig ging ich auf die Treppe zu, die zu der hölzernen Tür führte. Dort setzte ich mich hin und machte mich daran, meine Beute zu meinem Abendessen zu verarbeiten. Ich setzte das Messer an und machte den ersten Schnitt. Sobald etwas von dem roten Blut an der Klinge entlanglief, hielt ich kurz inne.

Wie gebannt folgte ich der Flüssigkeit, wie sie an meinem Handgelenk herunterlief und schließlich auf den steinigen Boden tropfte. Das Brennen in meiner Kehle wurde stärker. Ich konnte meine Augen nicht davon abwenden.

Plötzlich hörte ich ein seltsames Geräusch aus dem Wald. Ich riss mich widerstrebend von dem Anblick los und bemerkte beiläufig, dass das Brennen etwas nachließ. Schon wieder hörte ich es. Es klang wie das Wimmern eines verletzten Tieres. Ich legte meine Beute auf der Holztreppe ab und stand auf.

Das Geräusch kam aus der Nähe. Ich lief einige Meter in den Wald hinein und kämpfte mich gerade durch ein Gebüsch, als ich einen riesigen graubraunen Fellberg entdeckte. Ich trat nun ganz aus dem Gebüsch heraus und inspizierte dieses ‚Etwas‘ genauer.

Es war ein Wolf! Ein Riesenwolf, um genauer zu sein!

Ich hielt den Atem an und blieb wie erstarrt stehen. Das Tier rührte sich nicht. Ich schlich ganz vorsichtig komplett um den Wolf herum und sah, dass mehrere Pfeile aus seiner Brust herausragten. Er war tot. Es konnte noch gar nicht solange her sein, dass die Jäger ihn erwischt hatten.

Wieder das Wimmern.

Verwirrt blickte ich mich genauer um und entdeckte einen kleineren Fellhaufen, der sich hinter der großen Pranke des toten Wolfes zusammenkauerte. Ich ging näher heran und erkannte einen silbergrauen Welpen, der mich aus großen verängstigten Augen ansah. Aufrecht stehend müsste er mir ungefähr bis knapp unter das Knie gehen, aber man sah anhand seiner Proportionen, dass er vielleicht gerade mal zehn bis zwölf Wochen alt war. Ich hatte schon mal einen verletzten Hundewelpen im Wald aufgesammelt und wieder aufgepeppelt, daher konnte ich das ungefähr einschätzen. Leider hatten wir für uns schon nicht genügend Nahrung gehabt und deswegen hatte Elena für den Hund, als er wieder gesund war, einen neuen Besitzer finden müssen. Der kleine Wolf spreizte eines seiner Hinterläufe unnatürlich von sich weg. Er hatte sich wohl das Bein gebrochen.

Ich kniete mich hin und streckte vorsichtig meine Hand aus. Verängstigt zuckte der Welpe zurück und starrte mich dann mit weitaufgerissenen Augen an.

„Hey, ich tue dir nichts. Ich sehe zwar so aus, wie die, die deine Mutter umgebracht haben, aber ich habe nichts mit ihnen gemein“, sprach ich sanft auf ihn ein.

Mir war zwar klar, dass er mich nicht verstand, aber vielleicht beruhigte ihn ja der Klang meiner Stimme. Der Kleine stellte seine Ohren auf und horchte angespannt. Dann streckte er ganz langsam seine Schnauze zu mir hin und schnupperte vorsichtig an meinen Fingern.

Ich konnte kaum glauben, dass aus einem solch unschuldig wirkenden Tierbaby mal eine menschenfressende Bestie werden sollte. Noch einmal besah ich mir die tote Wölfin, wie sie da im Schlamm lag.

Ich hatte schon davon gehört, dass einige Jugendliche es zu einer Mutprobe machten, diese Tiere zu jagen. Diese Idioten waren auch, wenn ich es mir recht überlegte, für einen beachtlichen Anteil der Opfer verantwortlich. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Wölfin verzweifelt versucht haben musste, ihr Junges zu beschützen. Mitleid stieg in mir auf. Mir kam gerade das erste Mal der Gedanke, dass eventuell die Menschen die Übergriffe heraufbeschworen haben könnten. Die Wölfe hatten vielleicht die bewaffneten Jäger, die fast täglich auf der Suche nach Wild durch den Wald streiften, als Bedrohung aufgefasst und hatten deswegen angegriffen. Eins führte zum Anderen und es wurde zu einem ewigen Hin und Her.

Langsam hob ich meine Hand und kraulte den Welpen, der sich inzwischen beruhigt hatte, leicht am Ohr. Kurz zuckte er zusammen, aber entspannte sich dann gleich wieder, als er bemerkte, wie angenehm das Kraueln war. Ich rutschte etwas näher heran, packte das Fellknäuel und hob ihn hoch.

Oh Mann, war der schwer. Der Kleine fing wieder leicht an zu zittern und zappelte etwas. Dann folgte ein kurzes Aufjaulen, als er sein verletztes Bein unachtsam bewegte, doch jetzt hielt er wenigstens still. Ich brachte ihn zur Hütte und setzte ihn dort ab. Kurz lief ich rein und holte Kräuter und Verbandszeug.

Als ich das Bein gerichtet und eine Schiene angelegt hatte, machte ich eine Brühe aus schmerzlindernden Kräutern, die ich mit etwas kleingestückeltem Fleisch vermengte, und gab sie ihm. Erst war er etwas misstrauisch, doch nachdem er den ersten Fleischbrocken entdeckt hatte, verschlang er das Ganze gierig. In der Zwischenzeit hatte ich mir aus dem restlichen Fleisch, ein paar Pilzen und einigen Beeren ein halbwegs leckeres Abendessen zubereitet.

Kaum fingen die Kräuter an zu wirken, versuchte der Welpe sich aufzurappeln, was ihn durch die Schiene nicht allzu leicht fiel.

„Was machst du denn? Bleib doch liegen!“ Ich konnte mir bei dem Anblick ein leichtes Kichern nicht verkneifen.

Es sah einfach zu drollig aus, wie er versuchte sich mit der dicken Schiene am Bein zu bewegen.

„Warte noch drei, vier Wochen und du kannst wieder rumtollen. Aber bis dahin bleibst du gefälligst liegen!“, ermahnte ich ihn und drückte ihn wieder sanft in eine liegende Position.

Das konnte ja noch was werden. Wie sollte man einem kleinen Welpen klarmachen, dass er sich schonen musste? Er konnte ja nicht verstehen, dass seine Schmerzen zwar fast weg waren, aber er immer noch verletzt war.

Seufzend stand ich auf und ging in die Hütte. Dort kramte ich einige Decken zusammen und brachte sie zu meinem Schlafplatz. Nicht weit davon bereitete ich ein recht gemütliches Lager für den Wolf vor und ging dann wieder nach draußen.

Der Kleine schaute mir entgegen, als ich herauskam, und fing an, mit dem Schwanz zu wedeln. Ich musste über den Anblick lachen. Mann, wie lange war es nun her, dass ich das letzte Mal so gelacht hatte? Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken. Nachdem ich den Welpen reingetragen und in sein Lager gelegt hatte, machte ich mich ebenfalls fürs Schlafen fertig.

Plötzlich wurde mir speiübel und ich rannte nach draußen. Über ein kleineres Gebüsch gebeugt erbrach ich das Abendessen wieder. Mir stiegen Tränen in die Augen, als die Magensäure das Brennen in meiner Kehle noch verstärkte. Nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte, drehte ich mich wieder in die Richtung der Hütte und lief schnell nach drinnen. Ich schenkte mir ein Becher Wasser ein und stürzte ihn mit einem Zug runter. Das Brennen wurde etwas besser und ich setzte mich an den Tisch.

Was war bloß mit mir los?

Ein lautes Jaulen und Winseln ließ mich aufschrecken. Ich ging wieder zu meinem Schlafplatz und setzte mich neben den Welpen. Ich streichelte ihn noch eine Weile gedankenverloren und legte mich dann hin. Doch einschlafen konnte ich noch lange nicht.

 

 

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