Kapitel 3

 

 

Langsam hellte sich mein Zimmer auf. Der Sonnenaufgang.

Ich hatte fast die ganze Nacht wach in meinem Bett gelegen. Nachdem ich wieder von diesem Traum geweckt wurde, konnte ich nicht mehr einschlafen. Man sollte glauben, ich hätte mich inzwischen daran gewöhnt, doch ich wachte jedes Mal wieder panisch auf. Er war anders als die übrigen Träume, die ich immer hatte. Er fühlte sich viel realer an. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Kurz überlegte ich, ob ich noch liegen bleiben oder schon aufstehen sollte. Ein Geräusch im Nebenraum nahm mir diese Entscheidung ab. Ich setzte mich auf und griff nach meiner Kleidung. Als ich den Raum betrat, war Elena gerade dabei ihr Frühstücksgeschirr wegzuräumen.

„Guten Morgen.“

Das war das Einzige, was sie sagte. Sie sah mich noch nicht einmal an. War sie immer noch sauer auf mich? Seufzend holte ich mir einen Teller und eine Scheibe Brot. Während ich mich hinsetzte, beobachtete ich die Braunhaarige ganz genau. Sie sah immer noch nicht in meine Richtung.

„Es tut mir leid.“

Hoffnungsvoll sah ich sie an.

Sie atmete einmal tief durch, bevor sie sich zu mir umdrehte und auf den Tisch zukam.

„Ist schon gut. Es ist nur… Ich hatte mir solche Sorgen gemacht! Was wäre gewesen, wenn dir irgendetwas passiert wäre? Du weißt doch, dass in letzter Zeit sehr viele Menschen in den Wäldern sterben. Die Anzahl der Wölfe steigt von Jahr zu Jahr und sie werden immer aggressiver. Nachts ist es am gefährlichsten. Diese Bestien sind riesig und sehr schnell…“

„…und wenn sie es einmal auf dich abgesehen haben, gibt es kein Entkommen. Ich weiß. Das hast du mir schon mindestens tausendmal erzählt.“

Innerlich musste ich lächeln. Es war schon schön zu wissen, dass sich jemand um mich sorgte. Aber es zu hören war noch viel schöner.

„Das mag sein. Aber ich habe auch allen Grund dazu. So oft habe ich hier schon Patienten gehabt, die nicht gleich nach dem Angriff tot waren. Neun von Zehn sterben in der Regel und die, die es nicht tun, sind für ihr restliches Leben gezeichnet. Diese Wölfe sind erbarmungslos. Ich möchte dich einfach nicht verlieren!“

„Ich verspreche dir, dass ich in Zukunft besser aufpassen werde und immer vor Sonnenuntergang zurück bin.“

Ich sah ihr tief in die Augen und unterstrich meine Worte damit. Hoffentlich reichte es, um sie zu beruhigen. Sie sah mich leicht zweifelnd an. Ihr war bewusst, dass ich die Nacht schon immer dem Tag vorzog. Ich ging nachts nur nicht nach draußen, weil ich ihr keine Sorgen bereiten wollte. Vor den Wölfen fürchtete ich mich seltsamer Weise nicht, obwohl es allen Grund dazu gab. Ich hatte auch schon oft genug mitbekommen, wenn Elena Leute behandelte, die einen solchen Angriff überlebt hatten. Sie versuchte mich zwar immer mit irgendeiner Tätigkeit von dem Anblick fernzuhalten, aber ich sah mehr, als sie glaubte.

Bisher hatten nur eine Handvoll Menschen eine Attacke überlebt und was diese erzählten, war für den gesunden Menschenverstand unmöglich.

Man erzählte sich, dass diese Tiere um einiges größer waren, als es für Wölfe üblich war. Vor einigen Jahren war der erste Riesenwolf, wie die Leute sie nannten, aufgetaucht. Wenige Tage nach der ersten Sichtung wurde erstmals ein Mensch angefallen. Bald darauf wurden weitere dieser Tiere gesehen. Gleichzeitig verschwanden nach und nach die normalen Wölfe aus den Wäldern. Niemand konnte sich das erklären und noch weniger wusste man, wieso sie grundlos Menschen anfielen. Nach sieben Todesfällen innerhalb von zwei Wochen gingen einige Männer aus den Dörfern der näheren Umgebung auf die Jagd. Unter den Jägern befand sich auch Elena's Mann. Ich wusste nichts Genaueres darüber, da Elena über dieses Thema nicht redete. Das Einzige, das ich wusste, war, dass von mehr als fünfzig Personen bloß vier zurückgekehrt waren. Zwei von ihnen starben wenige Tage darauf an schweren Verletzungen, während man die anderen Beiden bis heute kaum ansprechen konnte.

Elena schien das Thema jetzt endgültig beiseiteschieben zu wollen. Sie sah meinen immer noch vollen Teller an.

"Hast du keinen Hunger?"

"Nein, nicht wirklich. Ich esse vielleicht später noch."

Schulterzuckend nahm sie meinen Teller und stellte ihn beiseite. Dann sahen wir uns ein paar Sekunden lang an, bevor sie ein gespielt ernstes Gesicht aufsetzte.

"Was sitzt du noch hier rum? Wir haben zu tun!"

Ich bemerkte sofort ihren Stimmungsumschwung und war erleichtert. Diesen Ton kannte und liebte ich. Sie versuchte zwar ernst zu klingen, aber das misslang ihr immer wieder aufs Neue. Grinsend sprang ich auf.

"Jawohl, Ma'am!"

"Mach jetzt, dass du rauskommst!"

Sie konnte sich das Lachen kaum verkneifen und ebenfalls mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht lief sie nach draußen. Wenige Sekunden später kam auch ich durch die Tür ins Freie geschritten. Es war ein schöner Tag. Doch der blaue Himmel konnte mich nicht täuschen.

"Es, fängt in einigen Stunden an zu regnen."

Jetzt sah auch Elena zum Himmel hoch.

"Wenn ich nicht schon häufiger miterlebt hätte, wie präzise deine Wettervorhersagen sind, würde ich dich jetzt für verrückt erklären. Dann lass uns mal anfangen, bevor wir noch nass werden."

Sofort machten wir uns daran, auf dem Beet Unkraut zu rupfen und neue Kräuter anzupflanzen. Einige Zeit verging und man konnte am Horizont schon vereinzelte Wolken erkennen.

Plötzlich fingen wieder diese schrecklichen Kopfschmerzen an. Ich griff mir an die Schläfe und sank auf die Knie. Alarmiert durch meine seltsame Bewegung, sprang Elena auf und kam zu mir gerannt.

"Alles in Ordnung? Leyla! Was ist mit dir?"

Ich blickte zu ihr auf und sah den Schrecken, der sich auf ihrem Gesicht breit machte. Ich konnte in der Spiegelung ihrer Augen nur noch etwas Rotes erkennen, bevor alles um mich herum dunkel wurde.

 

Allmählich kam ich wieder zu mir. Ich spürte, dass ich in etwas Nassem lag.

Mir stieg ein eigenartiger, süßlicher Geruch in die Nase. Es roch gut. Solch einen Duft hatte ich zuvor noch nie wahrgenommen. Kurz darauf begann es in meiner Kehle zu brennen. Es fühlte sich furchtbar an. So als würde mir jemand eine brennende Fackel in den Hals stoßen.

Erschrocken über den plötzlichen Schmerz schlug ich meine Augen jetzt gänzlich auf. Hastig setzte ich mich auf und fasste mir an die Kehle. In meinem Kopf drehte sich alles und ich brauchte einen Moment, um mich wieder etwas zu fangen.

Erst jetzt nahm ich meine Umgebung richtig wahr. Zuerst fiel mein Blick auf das verwüstete Beet. Jetzt fiel mir die Pfütze wieder ein, in der ich immer noch saß. Der Blick meiner grünen Augen wanderte nach unten. Ich konnte gerade noch einen Schreckensschrei unterdrücken.

Ich saß in einer roten Flüssigkeit! Blutrot!

Panisch sprang ich auf und sah an mir herunter. Es schien noch alles dran zu sein. Auch spürte ich, bis auf das Brennen in meiner Kehle, keinerlei Schmerzen. Erleichterung durchfuhr mich, doch dann fiel mir etwas ein.

Elena!

Wieder stieg die Angst in mir hoch. Unruhig und mit einer bösen Vorahnung suchte ich die Umgebung ab.

Da!

Irgendetwas lag gute zwanzig Meter von mir entfernt halb im Gestrüpp. In meinem schmerzenden Hals bildete sich ein Kloß. Ich schluckte schwer und setzte langsam einen Schritt vor den anderen.

"Elena?"

Stille.

Nach und nach kam mir die reglose Person bekannt vor. Als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, überkam mich eine Welle der Übelkeit. Ich drehte mich zur Seite und musste würgen. Mein Magen war leer. Das Einzige, was hoch kam, war meine Galle. Mein Hals fing noch mehr an zu brennen. Mir schossen Tränen in die Augen.

Die Gestalt, die vor mir lag, hatte kaum noch Ähnlichkeiten mit der Frau, die wie eine Mutter für mich gewesen war. Mein Blick wanderte wieder zu der entstellten Person. Wie betäubt starrte ich durch sie hindurch. Ich wusste nicht, wie lange ich dort bereits stand, als ich ein Geräusch neben mir wahrnahm. Es riss mich aus meiner Starre und ich blickte zum nahegelegenen Waldrand. Dort stand ein Mann. Fassungslos starrte er den regungslosen, blutbeschmierten Körper vor mir an. Langsam wanderte sein Blick zu mir, bevor ihn schließlich die Panik ergriff und er rücklings in den Wald stolperte. In dem Augenblick realisierte ich erst, was das bedeutete. Er würde jetzt in die Stadt laufen und den Leuten hiervon berichten. Sie würden kommen und mich holen. Mein Blick fiel noch ein letztes Mal auf Elena, bevor ich ohne darüber nachzudenken loslief.

Ich rannte und rannte. Genau wie in meinem Traum. Und auch dieses Mal liefen mir die Tränen über das Gesicht. In meinem Kopf spielten sich immer und immer wieder die gleichen Bilder ab. Abwechselnd sah ich die Männer aus meinem Traum und Elena, wie sie da lagen, blutüberströmt und entstellt. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass das niemals nur ein Traum gewesen war. Es war wirklich passiert. Ich hatte diese Männer auf dem Gewissen, genauso wie Elena. Panische Schluchzer stiegen in meiner Kehle auf.

Was zum Teufel war ich?

Die Menschen hier hatten recht. Ich war ein Monster, ein Dämon!

Ein Teil von mir wollte stehen bleiben, wollte sich den Leuten ausliefern. Doch irgendwas hielt mich davon ab. Irgendetwas sorgte dafür, dass ich weiterlief und sogar noch schneller wurde, bis die Bäume um mich herum wieder verschwammen und meine Beine erneut nur noch über den Waldboden schwebten.

Die Sonne war schon längst untergegangen, als ich stehen blieb. Es mussten Stunden vergangen sein. Meine Tränen waren mittlerweile versiegt. Ich setzte mich in das feuchte Laub, zog meine Beine an den Körper und schlang die Arme um sie. Es fing an zu regnen, doch ich nahm es nicht einmal wahr. Die Taubheit ergriff mich wieder und ich war dankbar dafür, dass ich den Schmerz nicht mehr spüren musste.

Ich wusste nicht, wie lange ich so da saß. Irgendwann legte ich mich wie apathisch auf das feuchte Laub und rollte mich zusammen. Kurz darauf fiel ich in einen unruhigen von Albträumen geplagten Schlaf.

 

 

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