Kapitel 2

 

 

Ich stand am Waldrand und beobachtete schon seit fast einer viertel Stunde Elena, wie sie vor unserem Haus saß und vor sich hin träumte.

   Worüber sie wohl nachdachte? Elena bemerkte fast immer, wenn etwas mit mir nicht stimmte. Ich wollte mich erst einmal beruhigen bevor sie am Ende noch unangenehme Fragen stellte. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Es gab bestimmt für alles eine plausible Erklärung und zwar eine, die nicht darauf hinauslief dass ich ein Monster war.

   Meine Sinne hatten mir bestimmt nur einen Streich gespielt. Der Junge hatte sich nur vor meiner Geschwindigkeit erschrocken und das Licht war bestimmt nur seltsam auf seine Augen gefallen. Genau! Das war es gewesen und die Geschwindigkeit war nur wieder eine hilfreiche neue Fähigkeit. So wie meine scharfen Sinne. Nichts Schlimmes. Woher diese Fähigkeiten kamen war nicht wichtig. Solange ich sie nicht benutzte um anderen Schaden zuzufügen, war ich auch kein Monster.

   Ich merkte, dass ich selbst nicht sehr überzeugt von meiner Erklärung war. Trotzdem holte ich tief Luft und ging auf das kleine Haus zu. Elena hob den Kopf und lächelte mich an, als sie mich entdeckte. Ich versuchte ebenfalls zu lächeln. Ob ich bloß eine Grimasse zog? Elena schien nichts zu bemerken, oder ignorierte sie es einfach? Schnell schüttelte ich diese Gedanken ab.

   „Hallo, Leyla! Schon wieder da?“

   Fragend sah sie mich an.

   „Ähm… Ja. Ich wollte nur die Einkäufe heim bringen. Danach hatte ich vor etwas im Wald spazieren zu gehen. Hast du Lust mit zukommen?“

   Ich hoffte inständig, dass sie ablehnte. Warum hatte ich bloß gefragt? Selbst wenn sie bis jetzt nichts bemerkt hatte, würde sie es bestimmt, wenn wir den ganzen Tag gemeinsam verbrachten. Ich könnte mir die Zunge abbeißen für meine Blödheit!

   „Nein, tut mir leid. Ich fühle mich heute nicht besonders. Ich glaube ich lege mich etwas hin.“

   Entschuldigend sah sie mich an.

   „Nicht schlimm. Ich hoffe es geht dir bald wieder besser.“

   Mit diesen Worten reichte ich ihr den Korb und verabschiedete mich.

 

Kaum war ich außer Sichtweite, lehnte ich mich erleichtert an einem Baumstamm an.

   Man hatte ich ein Glück. Ich war noch nie so glücklich darüber, dass es Elena schlecht ging.

   Ich stieß mich wieder von dem Baum ab und verließ den Pfad. Im Wald kannte ich mich besser aus wie jeder andere hier. Ich war gewissermaßen hier aufgewachsen. Schon immer hatte ich mich zu der freien Natur hingezogen gefühlt. Ich mochte die Ruhe hier.

   Allmählich wanderten meine Gedanken wieder zu meiner Entdeckung am Mittag. Ob ich es wohl wieder schaffte so schnell zu rennen? Ein Versuch war es wert. Ich lief los und nach einer Weile wurde ich immer schneller und schneller. Der Wind zischte an meinen Ohren vorbei und verstrubbelte meine Haare. Ich konnte den Boden unter meinen Füßen kaum noch spüren. Es fühlte sich an als würde ich fliegen! Trotz meiner hohen Geschwindigkeit, konnte ich alles in meiner Umgebung haarscharf erkennen und hatte keinerlei Probleme den Bäumen auszuweichen.

   Das war unglaublich! Lachend bremste ich und blieb nur einen Meter von dem Rand einer Klippe entfernt stehen.

   Wow! Das ist der Wahnsinn! Immer noch lachend stellte ich fest, dass ich überhaupt nicht außer Atem war. Ich hatte ja schon immer eine sehr gute Ausdauer, aber bei so einer Geschwindigkeit? Bestimmt hatte ich in den paar Sekunden fünf Kilometer zurückgelegt. Wenn nicht sogar noch mehr.

   Mein Hochgefühl verebbte allmählich wieder und ich setze mich in das weiche Gras. Es dauerte nicht lange und meine Gedanken schweiften wieder zu dem heutigen Vorfall.

   „Wenn ihr den morgigen Tag noch erleben wollt würde ich an eurer Stelle jetzt ganz schnell weglaufen“

   Ich hatte ein paar Kindern gedroht sie umzubringen! Menschen sagten viel wenn sie wütend waren, dass wusste ich aus Erfahrung. Ich war oft sauer gewesen. Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal wollte ich diese Drohung wirklich wahr machen. Ich hatte schon fast so etwas wie Vorfreude empfunden!

   Was zum Teufel war ich? War ich überhaupt ein Mensch? Ich hatte noch nie solche schrecklichen Gedanken gehabt. Klar war ich wütend auf diese Kinder. Wütend auf die Dorfbewohner. Aber ich würde doch nie … oder doch? Nein! Ich war noch nie ein gewalttätiger Mensch gewesen und das würde ich auch niemals werden.

   Ein Teil von mir glaubte meinen Worten selbst nicht.

   „Verdammt nochmal!“

   Wütend ließ ich mich Rückwärts ins Gras fallen. Was sollte ich denn bloß tun? Was war wenn ich wirklich kein Mensch war? Konnte ich dann einfach wie bisher weiter leben? Was war wenn so etwas noch mal geschah und zwar mit einem schlechteren Ende? Konnte ich dann jemals wieder in mein Spiegelbild schauen?

   Noch nie hatte ich mir sehnlichster gewünscht mehr über meine Vergangenheit zu wissen. Warum geschah das denn ausgerechnet mit mir? Wenn es so etwas wie einen Gott gab warum tat er dann sowas? Hatte ich irgendetwas getan wofür er mich jetzt bestrafen wollte? Nein das hat nichts mit Gott zu tun. Das Universum trieb nur seine kranken Scherze auf meine Kosten.

   Allmählich wurde es düster. Ich sah zum Himmel hoch und bemerkte, dass sich dort dunkle Wolken sammelten. Die ersten Tropfen kamen runter und landeten auf meinem Gesicht. Der kühle Regen tat gut und beruhigte mich irgendwie. Ich schloss meine Augen und genoss noch eine Weile das kühle Nass. Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich am Horizont einen leichten Rotschimmer zwischen den Wolken hervorstechen. Es war spät und ich musste langsam nach Hause, bevor Elena sich noch sorgen um mich machte.

   Ich stand auf und machte mich auf den Heimweg. Gedankenverloren sah ich in den Himmel und beobachtete die Regentropfen, wie sie sich ihren Weg auf die feuchte Erde bahnten und sich zu kleinen Pfützen sammelten. Mir fiel auf, dass sie im schwachen Licht wie unzählige Diamanten glänzten. Es sah irgendwie hübsch aus.

   Wenn ich ehrlich war wollte ich nicht zurück. Ich war noch nicht bereit mich den Fragen von meiner Pflegemutter zu stellen. Was sollte ich ihr erzählen? Ich wusste es nicht. Am liebsten gar nichts, aber das war wohl kaum möglich.

   Meine Schritte wurden immer langsamer. Wo sollte ich sonst hin? Elena würde sich furchtbare Sorgen mach. Das konnte ich ihr nicht antun.

   Ich lief wieder etwas schneller, als sich plötzlich ein pochender Schmerz in meinem Kopf bemerkbar machte. Mit einem erschrockenen Aufschrei sackte ich in die Knie. Meine rechte Hand wanderte zu meiner Schläfe, während ich mich mit meiner Linken an einem Baum abstützte.

   Was war das?

   Der Schmerz verebbte allmählich. Doch kaum war er auf einen aushaltbaren Grad zurückgegangen, kam auch schon die nächste Schmerzenswelle. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entwich meiner Kehle und mein Körper krümmte sich zusammen. Solche Schmerzen hatte ich zuvor noch nie gespürt. Was war nur los mit mir?

   Meine Hand rutschte von dem Baumstamm ab und landete auf der feuchten Erde. Eine weitere Welle überkam mich. Ich bohrte meine Finger fest in den Schlamm und schnitt mich dabei an einem scharfen Stein. Ich nahm kaum wahr wie sich langsam das warme Blut einen Weg aus meinem Finger bahnte.

   Was war das nur?

   Die Schmerzen wurden schlimmer und schlimmer. Schwarze Punkte tauchten in meinem Sichtfeld auf und wurden immer größer, bis ich dem Boden immer näher kam und das Bewusstsein verlor.

 

Als ich meine Augen wieder öffnete, war es bereits stockfinster.

   Ich nahm nur beiläufig wahr, dass ich im Schlamm lag. Wie lange ich wohl bewusstlos war? Langsam setzte ich mich auf und griff automatisch an meinen Kopf. Doch die Schmerzen waren verschwunden. Es kam mir fast so vor, als hätte ich sie mir nur eingebildet.

   Schnell sprang ich auf und sah in den Himmel. Er war immer noch mit dunklen Wolken behangen.

   Wie spät war es? Elena machte sich bestimmt große Sorgen. Ich sollte mich besser beeilen.

   Noch ehe ich diesen Gedanken beendet hatte lief ich auch schon los. Ich rannte so schnell ich konnte. Es dauerte nicht lange, bis ich das kleine Haus zwischen den Bäumen ausmachen konnte. Ob sie wohl noch wach war? Wahrscheinlich schon. Schnellen Schrittes lief ich die drei Stufen zur Haustür hoch und öffnete diese.

   Kaum hatte ich den Raum betreten, sprang Elena sofort auf.

   „Verdammt noch mal, Leyla! Wo kommst du denn bitte jetzt noch her? Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Es hätte Gott weiß was passiert sein können. Ich hatte schon Angst, dass dich vielleicht die Wölfe geholt hätten.“

   Sie löste die Umarmung und sah mich fragend und zugleich anklagend an.

   „Ich verlange eine Erklärung!“

   „Ähm … Ich bin wohl bei den Klippen eingeschlafen.“, kam es kleinlaut von mir zurück.

   „Eingeschlafen bei diesem Wetter?“ Ungläubig musterte sie meine Schlamm verschmierte Kleidung.

   „Was soll ich sagen? Ich hatte schon immer einen ziemlich festen Schlaf.“

   Ihr Blick wurde noch ungläubiger, aber sie ließ es anscheinend auf sich beruhen. Ich wusste nicht weshalb ich gelogen hatte. Aber irgendwas in mir sagte mir, dass es so besser war. Ich gähnte einmal herzhaft.

   „Ich bin furchtbar müde und werde jetzt ins Bett gehen. Tut mir wirklich sehr leid, dass du dir wegen mir Sorgen gemacht hast.“

   Mit einem entschuldigenden Blick ging ich auf die Tür zu meinem Zimmer zu und verschwand darin. Ich wollte lieber nicht warten, bis Elena noch einmal das Wort ergriff. Ich wollte sie nicht weiter anlügen müssen.

   Bevor ich mich hinlegte, zog ich mich um, wusch mich und verband noch schnell den Schnitt an meiner Hand. Ich lag eine ganze Weile wach in meinem Bett und fiel erst weit nach Mitternacht in einen unruhigen Schlaf.

 

 

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Halbblut

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Ayaka & das Drachental

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Projekt 120

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